Das Widerrufsrecht: Verbraucherschutz oder Schutz vor Verbrauchern?
(Anmerkung zur Entscheidung des EuGH vom 17. Mai 2023 in der Rechtssache C-97/22)
Aufgrund der Richtlinie 2011/83/EU über die Rechte der Verbraucher muss der Unternehmer dem Verbraucher bei Verträgen, die im Wege des Fernabsatzes geschlossen werden, eine Vielzahl von Informationen zur Verfügung stellen. Einzelheiten hierzu enthält Art. 246 a EGBGB. Von wesentlicher Bedeutung ist die Information über das dem Verbraucher zustehende Recht, den Vertragsschluss innerhalb von 2 Wochen zu widerrufen (Art. 246 a Abs. 2 EGBGB, §§ 355 Abs. 1, 356 BGB).
Erteilt der Unternehmer dem Verbraucher diese Informationen nicht oder nicht ordnungsgemäß, verlängert sich die Widerrufsfrist um zwölf Monate nach Ablauf der ursprünglichen Widerrufsfrist.
Dem Verbraucher steht das Widerrufsrecht in den vom Gesetz angeordneten Fällen unbedingt zu. Daher ist jeder Unternehmer gut beraten, den Verbraucher ordnungsgemäß über das Widerrufsrecht zu informieren und Leistungen nicht zu erbringen, bevor das Widerrufsrecht abgelaufen ist, es sei denn, der Verbraucher, ordnungsgemäß über das Bestehen des Widerrufsrechts informiert, verzichtet auf dieses gemäß § 356 Abs. 4 BGB:
4) Das Widerrufsrecht erlischt bei Verträgen über die Erbringung von Dienstleistungen auch unter folgenden Voraussetzungen:
1. bei einem Vertrag, der den Verbraucher nicht zur Zahlung eines Preises verpflichtet, wenn der Unternehmer die Dienstleistung vollständig erbracht hat,
2. bei einem Vertrag, der den Verbraucher zur Zahlung eines Preises verpflichtet, mit der vollständigen Erbringung der Dienstleistung, wenn der Verbraucher vor Beginn der Erbringung
a) ausdrücklich zugestimmt hat, dass der Unternehmer mit der Erbringung der Dienstleistung vor Ablauf der Widerrufsfrist beginnt,
b) bei einem außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Vertrag die Zustimmung nach Buchstabe a auf einem dauerhaften Datenträger übermittelt hat und
c) seine Kenntnis davon bestätigt hat, dass sein Widerrufsrecht mit vollständiger Vertragserfüllung durch den Unternehmer erlischt,
3. bei einem Vertrag, bei dem der Verbraucher den Unternehmer ausdrücklich aufgefordert hat, ihn aufzusuchen, um Reparaturarbeiten auszuführen, mit der vollständigen Erbringung der Dienstleistung, wenn der Verbraucher die in Nummer 2 Buchstabe a und b genannten Voraussetzungen erfüllt hat,
der Verbraucher weist den Unternehmer ausdrücklich an, mit der Dienstleistung bereits vor Ablauf gemäß Art. 7 Abs. 3 der Richtlinie zu beginnen.
In Kurzfassung muss der Unternehmer den Verbraucher über das Bestehen eines Widerrufsrechts informieren und sich von ihm schriftlich bestätigen lassen, dass er den Unternehmer anweist, sofort, d. h. vor Ablauf der Widerrufsfrist mit der Leistung zu beginnen. Er kann den Vertrag dann zwar noch innerhalb der Widerrufsfrist widerrufen, muss den Unternehmer jedoch für die bereits erbrachten Leistungen vergüten. Hat der Unternehmer seine Leistungen bereits vollständig vor Widerruf erbracht, steht ihm in diesem Fall die vertraglich ausbedungene Gegenleistung zu. Im Übrigen besteht bereits gemäß § 312g Abs. 2 Nummer 11 BGB eine Ausnahme für Verträge, bei denen der Verbraucher den Unternehmer ausdrücklich aufgefordert hat, ihn aufzusuchen, um dringende Reparatur- oder Instandhaltungsarbeiten vorzunehmen. Diese Ausnahme beschränkt sich allerdings auf die dringenden Reparatur- oder Instandhaltungsarbeiten. Die Ausnahme gilt nicht hinsichtlich weiterer bei dem Besuch oder nachfolgend erbrachter Dienstleistungen, die der Verbraucher nicht ausdrücklich verlangt hat, oder hinsichtlich solcher bei dem Besuch gelieferter Waren, die bei der Instandhaltung oder Reparatur nicht unbedingt als Ersatzteile benötigt werden. Bei der Abgrenzung ist Streit vorprogrammiert.
Was aber passiert, wenn der Unternehmer den Verbraucher nicht ordnungsgemäß über ein bestehendes Widerrufsrecht informiert, jedoch seine Leistung bereits vollständig und ordnungsgemäß erbracht hat?
Eine Lösung für dieses Problem könnte darin bestehen, dass der Unternehmer nach Widerruf des Vertrages seine bis dahin erbrachten Leistungen jedenfalls auf der Grundlage der Vorschriften über die ungerechtfertigte Bereicherung abrechnen oder Herausgabe zum Beispiel montierter Geräte verlangen kann. Dies könnte interessengerecht erscheinen, weil der Verbraucher in diesem Fall nur den objektiv ihm zukommenden Wert der Bereicherung erstatten oder die Sachen herausgeben müsste. Da gemäß § 818 Abs. 3 BGB die Verpflichtung zur Herausgabe oder zum Ersatz des Wertes ausgeschlossen ist, wenn der Empfänger nicht mehr bereichert ist, ist der Verbraucher ausreichend geschützt. Hat die Leistung des Unternehmers für ihn bzw. objektiv keinen Wert, schuldet er auch keinen Wertersatz. Dies ist ein hohes Risiko für den Unternehmer, der auch den ihm zustehenden Unternehmerlohn nicht verlangen könnte. Man könnte meinen, dies sei eine ausreichende Sanktion und damit Anreiz für Unternehmer, die verbraucherschützenden Vorschriften insbesondere bezüglich des Widerrufs zu beachten.
Dem erteilte jedoch der EuGH mit der hier besprochenen Entscheidung vom 17. Mai 2023 eine klare Absage.
In dem Fall ging es um einen am 6. Oktober 2020 mündlich im Wege des Fernabsatzes geschlossenen Vertrag über die Erneuerung der Elektroinstallation eines Hauses, ohne dass der Unternehmer den Verbraucher ordnungsgemäß über sein Widerrufsrecht unterrichtet hatte. Der Unternehmer erbrachte im Vertrauen auf das Zustandekommen eines wirksamen Vertrages seine Leistungen vollständig und legte am 21. Dezember 2020 nach Abnahme des Gewerkes Rechnung. Diese Rechnung bezahlte der Verbraucher nicht. Der Unternehmer rief daraufhin das Gericht zur Streitentscheidung an.
Der Verbraucher berief sich auf den zwischenzeitlich erklärten Widerruf des Vertrages. Der Unternehmer hingegen argumentierte, ihm den Anspruch auf Zahlung des Entgelts zu verweigern, stelle eine unverhältnismäßige Sanktion und damit einen Verstoß gegen den 57. Erwägungsgrund der Richtlinie 2011/83 dar. Nach diesem Erwägungsgrund ist es zwar notwendig, dass die Mitgliedstaaten Sanktionen für Verstöße gegen die Richtlinie festlegen und dadurch für deren Durchsetzung sorgen. Die Sanktionen sollen wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein. Die vollständige Versagung der Gegenleistung bei ordnungsgemäßer Erbringung einer Leistung sei jedoch nicht verhältnismäßig, allzumal es vorliegend um die wohl nicht ganz billige Erneuerung der Elektroinstallation eines Wohnhauses ging, von der der Verbraucher wohl nach dem mitgeteilten Sachverhalt in Zukunft profitiert.
Das mit der Angelegenheit befasste Landgericht Essen ging ohne Rechtsfehler davon aus, dass gemäß der Richtlinie der Verbraucher grundsätzlich nicht für die vertraglich vereinbarte Vergütung für die vor Ablauf der Widerrufsfrist erbrachten Leistungen aufzukommen hat, wenn der Unternehmer es unterlässt, den Verbraucher über sein Widerrufsrecht zu informieren. Der vollständige Ausschluss jedweden Wertersatzes hingegen könnte geeignet sein, den vom EuGH auch unter Geltung des Unionsrechts anerkannten allgemeinen Grundsatz des Verbots ungerechtfertigter Bereicherung zu verletzen. Dies könnte der Fall sein, wenn der Verbraucher infolge des Widerrufs nach vollständig erbrachter Leistung hiervon ohne jeden Wertersatz profitiert. Das Landgericht legte dem EuGH die Sache daher zur Frage der Auslegung von Art. 14 Abs. 5 der Richtlinie vor.
Der EuGH teilte jedoch die Bedenken des Landgerichts nicht. Die Richtlinie habe in Gemäßheit des Art. 169 AEUV und Art. 38 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union zum Ziel, ein sehr hohes Verbraucherschutzniveau sicherzustellen. Dieses Ziel stehe im Vordergrund, wie der EuGH bereits in der Begründung der Amazon-Entscheidung vom 10. Juli 2019 ausgeführt hatte.
Daher entschied der EuGH:
Art. 14 Absatz 4 Buchstabe Ziffer i und Art. 14 Abs. 5 der Richtlinie 2011/83/EU sind dahin auszulegen, dass sie einen Verbraucher von jeder Verpflichtung zur Vergütung der Leistungen befreien, die in Erfüllung eines außerhalb von Geschäftsräumen abgeschlossenen Vertrages erbracht wurden, wenn ihm der betreffende Unternehmer die Informationen gemäß Art. 14 Absatz 4 Buchstabe a Ziffer i nicht übermittelt hat und der Verbraucher sein Widerrufsrecht nach Erfüllung dieses Vertrages ausgeübt hat.
Kurz gesagt: Der Unternehmer erhält nicht einmal Wertersatz für die von ihm unstreitig erbrachten Leistungen, insbesondere die eingebauten Geräte.
Die Entscheidung macht deutlich, dass alle Unternehmen, die Verträge im Wege des Fernabsatzes abschließen, gut beraten sind, peinlichst genau die Vorschriften zur Widerrufsbelehrung zu beachten. Ist im Einzelfall die Erbringung der Leistung vor Ablauf der Widerrufsfrist notwendig, muss der Unternehmer sich das entsprechende Einverständnis des Kunden ausdrücklich schriftlich bestätigen lassen.
Im Zweifel sollte der Unternehmer mit der Erbringung seiner Leistung erst nach Ablauf der Widerrufsfrist beginnen.
Zwar verhält sich die Entscheidung nach ihrem Wortlaut über Dienstleistungen. Dienstleistungen in der europäischen Diktion sind jedoch auch Werkverträge, die sich in aller Regel dadurch auszeichnen, dass nicht nur immaterielle Dienstleistungen erbracht werden, sondern der Unternehmer mit der Lieferung zum Beispiel der streitgegenständlichen Elektroinstallation oder einer Heizungsanlage erheblich in finanzielle Vorlage tritt.
Ob der EuGH den Verbrauchern damit am Ende einen Gefallen tut, sei dahingestellt. Die Bereitschaft eines Handwerkers, aber auch eines Dienstleisters wie zum Beispiel eines Therapeuten, eines Anwaltes etc., kurzfristig einem Verbraucher, der dringend Hilfe benötigt, zur Hilfe zu eilen, wird diese Entscheidung sicherlich nicht befördern.